… oder warum wir uns über unser jetziges Wappen freuen sollten.
An „Kerb“ werden wir sie wieder bewundern können: Die vielen schwarz-gelben Fahnen in den Straßen und an den Häusern von Selzen. Wir sind stolz auf unser schönes Ortswappen, dass doch so treffend die Geschichte und die Rangelei um die Eigentumsverhältnisse von Selzen wiederspiegelt.
Doch dazu an einer anderen Stelle demnächst mehr.
Nur wenig bekannt ist es hingegen, dass es womöglich auch anders hätte kommen können.
1905: Selzen ohne Löwe und Schlüssel
Im Jahr 1905, also etwa 50 Jahre vor der Genehmigung zur Führung eines eigenen Wappens, taucht in einer wichtigen Publikation mit dem etwas sperrigen Titel „Rheinhessen in Vergangenheit und Gegenwart - Geschichte der bestehenden und ausgegangenen (untergegangenen) Städte, Flecken, Dörfer, Weiler und Höfe, Klöster und Burgen der Provinz Rheinhessen“ ein ganz anderes Selzer Wappen auf.
Doch, wie zuverlässig ist die Quelle?
Geschrieben wurde das Buch von Karl Johann Brilmayer (* 29. März 1843 in Bingen; † 16. November 1905 in Mainz), einem anerkannten katholischen Priester und rheinhessischem Heimatforscher. ¹
Brilmayer studierte Philosophie und katholische Theologie in Mainz und Würzburg. Von Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler zum Priester geweiht, trat er seine erste Stelle als Kaplan in Schwabenheim an der Selz an. Im Anschluss daran wurde er Mathematiklehrer in Dieburg und in Gau-Algesheim, wo er nach 1880 auch die Seelsorge für die katholischen Gemeinden Appenheim, Nieder- und Ober-Hilbersheim übernahm. Am Ende seines Wirkens in Gau-Algesheim erschien 1883 sein Buch über die Geschichte der Stadt. 1887 zog Brilmayer nach Mainz, wo er eine Stelle als Schulrat antrat und bis zu seinem Tod wohnte. An seinem Haus in der heutigen Adam-Karrillon-Straße ist eine Gedenktafel angebracht. ²
Gau-Algesheim ehrte 1981 den verdienten Priester durch die Gründung der "Carl-Brilmayer-Gesellschaft". Die Gesellschaft versammelt einen Kreis interessierter Bürger, die an der Erforschung der Geschichte und der Wahrung des kulturellen Erbes arbeiten. ³
Im Jahr seines Todes erschien 1905 Brilmayers Hauptwerk „Rheinhessen in Vergangenheit und Gegenwart- …“. Im Vorwort des Buchs beschreibt er die Herkunft seiner Informationen. So hatte er diverse Aufzeichnungen über Jahre gesammelt und darüber hinaus örtliche Pfarr- und Bürgermeistereiarchive besucht. ²
In seinem Buch führt er in alphabetischer Reihenfolge die einzelne Ortschaften Rheinhessens auf. Zu jedem Ort liefert er Informationen über die konfessionelle Zugehörigkeit der Einwohner, Verwaltung, Kirche und Schule, Ortsgeschichte, Denkmäler, Gemarkung und Befestigungsanlagen sowie … das Gemeindewappen. ²
Das Buch avancierte zum bedeutendsten Standardwerk zur Geschichte der Ortschaften Rheinhessens. Einige von Brilmayer konsultierte Quellen, z.B. in einigen Pfarrarchiven oder Bürgermeistereien, sind heute nicht mehr vorhanden, so dass dem Buch ein hoher dokumentarischer Wert zukommt. ²
Ein Werk, von dem Prof. Dr. Dr. Anton Philipp Brück in seinem Aufsatz "Karl Johann Brilmayer, der Pädagoge und Heimatforscher" sagt:
"Jeder Heimatforscher braucht heute noch zur ersten Orientierung über die Geschichte der Orte in unserem Gebiet das umfangreiche Buch von Karl Johann Brilmayer." ³ ⁴
Von der Mainzer Prinzengarde zum Selzer Wappen
Die vielen, in dem Buch abgebildeten, Wappenbilder zeichnete wiederum Clemens Kissel (* 3. Mai 1849 in Mainz; † 25. Dezember 1911 in Mainz), ein ebenfalls anerkannter deutscher Graveur, Zeichner und Schriftsteller in Mainz. ⁵
Kissel galt und gilt als äußerst talentierter und vielseitiger Künstler des 19. Jahrhunderts. So reparierte er die, durch die Pulverturmexplosion am 18. November 1857 beschädigte, astronomische Uhr im bischöflichen Palais Mainz und entwarf die ersten beiden Uniformen für die Mainzer Prinzengarde. Vor allem aber war er bekannt für seine kunstvollen Exlibris- (in Bücher eingeklebter Zettel oder ein Stempel, der zur Kennzeichnung des Eigentümers dient) und Wappen-Entwürfe. ⁵
Mit der detaillierten Darstellung der beiden Protagonisten dürfte annähernd belegt sein, dass das für Selzen dargestellte Wappen, auch wenn die Quelle heute unbekannt ist, einen wahrscheinlich gut recherchierten und fundierten Ursprung hatte.
Der goldene Reichsapfel aus Selzen
Und so finden wir auf der Seite 413 des vorgenannten Werks das für uns so befremdliche und ungewohnte Wappen von Selzen.
Wenn auch hier in Schwarz-Weiß, zeigt das Bild einen goldenen Reichsapfel (ungewöhnlicherweise ohne aufgesetztem Kreuz) vor einem roten Hintergrund.
Ein Reichsapfel ist ein Herrschaftszeichen in Form einer Weltkugel mit üblicherweise aufgesetztem Kreuz. Um die Kugel ist ein Metallband wie ein Äquator gespannt und mittig wird das Band nach oben weitergeführt, so dass es in der Regel in das Kreuz ausläuft. So findet sich der Reichsapfel auch in den Wappen von Nackenheim und Wiesbaden-Schierstein und auch die Pfalzgrafen hatten dieses Symbol in ihren Wappen übernommen. ⁶
Das hier fehlende Kreuz könnte für eine versinnbildlichte Trennung von religiöser und weltlicher Macht stehen.
Umgesetzt auf die, um die 1950 zumeist vollzogene, Vereinfachungen der historischen Wappen und Siegel könnte demnach unser heutiges Wappen in etwa auch so aussehen:
Etwas langweilig und ein Löwe macht definitiv mehr her ... aber nun, … wäre das so tragisch?
Zunächst würde sich natürlich das Erscheinungsbild von Selzen in einigen wenigen Fällen ändern und natürlich auch einige Vereinswappen. Womöglich so:
Ich denke, auch das hätten wir überlebt. ABER ...
Der Hahn und das Ei
Vielleicht ist dem ein oder anderen aufgefallen, dass das Wappen die gleichen Farben aufweist, wie das Hahnheimer Wappen. Wenn man nun die beiden Wappen nebeneinander stellt …. wird einem schlagartig klar, dass DAS nicht wirklich so toll wäre. Ich darf vorstellen: Der Hahn und sein Ei.
Ich will gar nicht wissen, welche „Frotzeleien“, Spitzen und Bilder über die Jahre zwischen den Gemeinden ausgetauscht worden wären. Daneben natürlich auch die Frage … wer war zuerst da, Huhn (Hahn) oder Ei?
Aber es ist ja nochmal gutgegangen. Heinz Leitermann sei Dank. Wer ist Heinz Leiterman? Das werde ich in einem gesonderten Beitrag schildern.
Aber gleichwohl, einen Nachteil müssen wir dann doch ertragen.
Wenn unsere Fahnen gehisst werden, müssen wir stets darauf achten, dass der aufsteigende Löwe, vom Betrachter aus gesehen, immer nach links schaut.
Zumindest DAS, wäre bei dem alternativen Wappen egal gewesen.
Quellen:
¹ Vgl. Seite „Karl Johann Brilmayer“ in Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand 17. September 2018, URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Karl_Johann_Brilmayer&oldid=180979692
² Vgl. Alexander Wißmann, Das Rheinhessenbuch von Karl Johann Brilmayer (1905), 2016, Regionalgeschichte.net, URL: https://www.regionalgeschichte.net/index.php?id=16585
³ Vgl. Ludwig Hellriegel, (Biographien) Carl Johann Brilmayer, 1999, Regionalgeschichte.net, URL: https://www.regionalgeschichte.net/bibliothek/biographien/brilmayer-carl-johann.html
⁴ Vgl. Prof. Dr. Dr. Anton Philipp Brück, Karl Johann Brilmayer, der Pädagoge und Heimatforscher, Heimatjahrbuch Landkreis Mainz-Bingen, 1981, Seite 147-149
⁵ Vgl. Seite „Clemens Kissel“ in Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 20. Oktober 2018, URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Clemens_Kissel&oldid=181981029
⁶ Vgl. Seite „Reichsapfel“ in Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 14. August 2019, URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Reichsapfel&oldid=191335944
Hallo Andreas,
zufällig war ich in Weimar und auch dort gibt es den Löwen im Wappen, der mir mit den Herzen sehr gut gefällt; ein Bild kann ich scheinbar hier nicht einfügen.
Toll daß du den blog betreibst, wir haben uns ja vor der Kaiserstr.12 kurz unterhalten.
Hermann Hofmann