Kirchstraße 13 (früher 15): April 1961 - Ein zeitgeschichtlicher Besichtigungstermin in unserer alten „Neuen Schule“.
Text und Bilder von Wilhelm Wagner (†1990). Veröffentlicht und ergänzt (in Kursiv-Schrift) von Stefan Bremler im Rahmen der Aktion "Selzer Häuser erzählen".
Auch wenn es nicht den Anschein hat - das heutige Evangelische Gemeindehaus, das frühere Schulhaus, ist im Kern eines der ältesten Häuser von Selzen. Der Keller stammt wohl noch von dem Vorgängerbau, dem lutherischen Bethaus aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts.
Die lange, wechselhafte und ereignisreiche Geschichte dieses Hauses kurz abzuhandeln ... unmöglich!
Deshalb soll an dieser Stelle unser Blick in die Vergangenheit auf nur einen einzigen Tag fallen. Es ist der 12. April 1960, also fast genau vor 60 Jahren. An diesem Tag hat der damalige Schulleiter Wilhelm Wagner in Text und Bild das Aussehen und den Zustand der Schule und der Räume für alle Zeiten und kommenden Generationen konserviert.
Wilhelm Wagner (1909-1990) - Ehrenbürger der Gemeinde Selzen
Wilhelm Wagner kam 1933 als junger Lehrer von seinem Heimatort Nieder-Ramstadt nach Selzen, als Nachfolger von Lehrer Graf. 1958 wurde er – nach dem Weggang von Lehrer Keller – Hauptlehrer und Leiter der Volksschule Selzen. 1966 zog er mit seinen Schülern in die neue Verbandsschule Selzen-Hahnheim um und wurde Rektor dieser Schule. Nach 42 Jahren Schuldienst in unserer Gemeinde trat er 1975 in den Ruhestand.
Für seine Verdienste um das Schulwesen und das Vereinsleben ernannte der Gemeinderat 1989 Wilhelm Wagner zum Ehrenbürger von Selzen. Zudem wurde die Lehrer-Wagner-Straße im letzten Neubaugebiet "Hinter der Kirche" nach ihm benannt.
Die Schule in der Kirchstraße war 1959/60 für die damals stolze Summe von 140.000 DM umgebaut worden. Doch schon 1966, nach der Fertigstellung der Verbandsschule Selzen-Hahnheim, kam das Ende für die alte „Neue Schule“. Die nachfolgende Bestandsaufnahme von 1961 steht womöglich mit diesem Ereignis in Zusammenhang.
Die Aufzeichnungen zeigen den Stolz von Wilhelm Wagner auf seine "Neue Schule". Sehr deutlich und direkt spricht er aber die weiterhin bestehenden Missstände an. Und typisch für den beliebten Lehrer ... bei diesen Bericht, den er zusammen mit den Lehrkräften Sofie Moll und Horst Witwer anfertigte, beteiligte er auch "seine" Kinder. Und so fanden auch sympathische, schöne Kinderzeichnungen der Mittelklasse (3. und 4. Schuljahr) ihren Weg in das offizielle Dokument.
Folgen wir also den Worten und Bildern unseres Ehrenbürgers Wilhelm Wagner und "seiner Kinder" und machen eine Stippvisite in „Die Klasse von 1961“.
Der Standort der Schule
Die „neue“ Schule liegt mit der vorderen Front an der Kirchstraße. Dies ist eine ruhige Straße fast ohne Verkehr, so dass keinerlei Störung des Unterrichts erfolgt. Das Haus ist umgeben vom Schulhof, der vom Lehrerhaus, der Kirche und dem Friedhof, sowie zwei angrenzenden Garten- bzw. Hofmauern begrenzt wird.
Auch von der Nachbarschaft wird der Schulbetrieb in keiner Weise behindert oder gestört.
Das Schulhaus
Das „neue“ Schulhaus ist aus dem Umbau eines Hauses entstanden, das bis etwa 1710 als Bauernhaus diente, von da ab nach einigen Umänderungen als Lutherischer Betsaal benutzt wurde, bis es 1825 nach neuerlichem Umbau in ein Schulhaus mit zwei Sälen umgestaltet wurde.
Da diese den heutigen Anforderungen an einen modernen Schulbetrieb nicht mehr genügten, wurde 1959/60 das Haus total umgebaut und es ist nahezu ein“ Neubau“ daraus entstanden. Er soll in einigen Jahren noch durch einen Anbau im Pavillonstil erweitert werden.
Dieser soll dann auch die jetzt noch fehlenden Gruppen- und Nebenräume, sowie menschenwürdige hygienische Anlagen enthalten.
Die neue Schule hat Ölheizung und ein Treppenhaus mit Steinstufen von 170 cm Breite und 16,5 cm Höhe (siehe Grundriss). Ein stabiles eiserne Geländer führt zum ersten Stockwerk. Beide Materialien, Stein und Eisen, verbürgen auch die nötige Brandsicherheit.
Im unteren wie oberen Flur können die Kinder ihre Garderobe an einer ausreichenden Anzahl von Kleiderhaken unterbringen. Im Obergeschoss liegt auch das Lehrerzimmer, das gleichzeitig als Bibliotheksraum für die Lehrer-, Schüler- und Gemeindebücherei dient.
Die Schulsäle und Nebenräume
Zwei Säle ohne Gruppenräume von 8,40 m Länge, 7,60 m Breite und 3,10 m Höhe sind vorhanden. Jeder Saal hat 5 Fenster, ...
Die Wände sind in zarten Pastellfarben (rosa bzw. grün) gehalten, die Decken beige (keine Schallschluckplatten), und der Fußboden ist mit hellen Bodenplatten belegt, die sich sehr gut bewähren. Vier Neonröhren erhellen die Räume ausreichend und je 5 Heizkörper (Ölheizung) spenden Wärme.
Im oberen Saal muss noch eine Möglichkeit gefunden werden, die Blendwirkung der Wandtafel für ungefähr acht der an der Ostseite des Raumes sitzenden Schüler zu beseitigen.
Zu der Einrichtung des Schulsaales im Erdgeschoß ist folgendes zu bemerken: Es sind vorhanden 24 Tische (Stahlmöbel), verstellbar), 48 Stühle, ein Lehrertisch, ein Lehrerstuhl, ein zweitüriger Schrank, eine dreiteilige Wandtafel, ein Waschbecken, ein Spiegel, Wandleisten, eine Rechenmaschine, ein Kartenständer, ein Kruzifix. Tische und Stühle sind neu angeschafft worden. Sie sind zweckmäßig und modern.
Ein Lehrmittelraum ist vorgesehen, aber noch nicht eingerichtet. Die Bibliothek dient gleichzeitig als Lehrerzimmer. Weitere Räume sind nicht vorhanden.
Die hygienischen Anlagen
Die hygienischen Anlagen sind gänzlich veraltet und entsprechen in keiner Weise den gesundheitlichen Erfordernissen. Es sind je drei Plätze für Knaben und Mädchen vorhanden.
Praktisch bestehen sie aus einem alten Brett, das über der Abortgrube liegt und mit einem kleinen kreisrunden Loch versehen ist.
Im Winter zieht eisiger Wind durch die Hütte, gelegentlich regnet es hinein. Die Türen besitzen keine Riegel mehr.
Für den Inhaber der Lehrerwohnung ist die Abortanlage im Lehrerhaus, und sie besteht aus der üblichen Anlage mit Wasserspülung. Für die dritte Lehrkraft ist keine Lehrerabortanlage vorhanden. Waschgelegenheit ist im Schulsaal gegeben.
Der Schulhof
Der Schulhof ist etwa 350 qm groß und mit Kies und Sand belegt. Ein kleiner Teil am Eingang ist gepflastert. Er ist mit älteren und neu angepflanzten Bäumen bestanden. Vor dem Eingang zur evangelischen Kirche ist ein kleiner Steingarten angelegt.
Der Schulhof ist bei jedem Wetter benutzbar.
Es ist kein Schulgarten vorhanden.
Der Sportplatz und die Turnhalle
Die Gemeinde ist Eigentümer des Platzes. Er ist etwa 300 m von der Schule entfernt und, wenn es vorher nicht allzu stark geregnet hat, auch immer benutzbar.
Eigentümer der Halle ist der Turnverein. Sie ist etwa 300 m von der Schule entfernt und mit allen Turngeräten außer Kletterstangen oder Seilen und Rundlauf ausgerüstet.
Die Ausstattung (zusammen mit der Schule in der Kaiserstraße; nur Auszüge)
Sachfach Erdkunde:
Unterrichtshilfen sind Wandkarten und 8 Anschauungsbilder, ein Globus von 35 cm Durchmesser und ein Umriss-Stempel Europa. Jedes Kind hat seinen Atlas, ein Lehrbuch für Erdkunde ist nicht eingeführt.
Sachfach Geschichte und Gemeinschaftskunde:
Wir besitzen 8 Anschauungsbilder und eine Bilderserie „Geschichte in Bildern“ von K. A. Mayer (4 Bände).
Sachfach Naturkunde:
Für den Unterricht stehen 52 noch brauchbare Anschauungsbilder zur Verfügung. Ebenso der „Blumen-Atlas“ Band 1 und 2. Naturkundebücher sind nicht eingeführt.
Sachfach Naturlehre:
Unsere Ausstattung besteht aus 5 Anschauungsbildern, 1 Newa-Lehrgerät für Elektrik mit Telefon, 1 Unitrafo, 1 Lehrbaukasten Magnet, 1 Lehrbaukasten Reibungselektrizität, 1 Flaschenzug, 1 Waage und eine Gesteinssammlung.
Hilfsmittel und Geräte:
Unsere Schule besitzt 2 Rundfunkgeräte Nordmende „Fidelio“ aus den Jahren 1956 und 1960. Ebenso sind vorhanden ein Stummfilmvorführungsgerät Siemens (1957) und eine Diaskop Braun „Paximat“ von 1960.
An Turngeräten besitzen wir: 6 Federballschläger mit Bällen, 5 Wurfbälle, 2 Medizinbälle, 12 Gymnastikbälle, 1 Korbball, 1 Handball, 3 Fußbälle, 1 Indiacaball, 1 Schlagholz, 1 Langseil, 1 Sprungseil, 8 Hupfseile, 2 Stoppuhren, 1 Tamburin mit Schläger und 2 Körbe für Korbball.
Als Hilfe für den Musikunterricht ist ein Harmonium vorhanden.
Lehrer- und Schulbücherei:
Die Lehrebücherei besteht aus 10 Bänden brauchbarer Fachliteratur. Die Schülerbücherei umfasst 250 ganz neue Bände, Erzählungen, Abenteuer und Reisen, Geschichten für Kinder, Natur und Technik sowie Märchen, Sagen und Schwänke. Auch eine Gemeindebücherei mit über 200 Bänden ist vorhanden.
Gemeindemittel in den letzten Jahren:
Für Lehr- und Lernmittel stand ein Gesamtbetrag von 500 DM zur Verfügung, was nicht ganz DM 4,-- pro Kind bedeutet.
Die Lehrerwohnung
Im Schulhaus selbst ist keine Lehrerwohnung. Nebenan aber als Dienstwohnung ein innen und außen neu hergerichtetes Einfamilienhaus mit 5 Zimmern, Küche, Bad, WC und Garage.
Und damit beenden wir unseren Besuch in der Vergangenheit, an die sich die ehemaligen Schülerinnen und Schüler der Schule in der Kirchstraße bestimmt noch gut erinnern können.
Quellen:
Bestandsaufnahme der Volksschule Selzen von Wilhelm Wagner, Sofie Moll und Horst Witwer.
Fotografien wahrscheinlich von Wilhelm Wagner.
Lageplan und Grundriss wahrscheinlich von Wilhelm Wagner.
Kinderzeichnungen von Helga Bingenheimer, Helga Hess, Karl-Heinz Held, Mechthild Büttel, Ruth-Else Kissinger (4. und 5. Schuljahr 1961).
Bestandsaufnahme, Fotografien und Kinderzeichnungen befinden sich im Landesarchiv Speyer. Fundstelle: Bestand H 53, Findbuch 06.05, Sachakte 2901: Bestandsaufnahme der Schulen mit Plänen, Ortsplänen und Fotografien Selzen.
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