Die Wahlergebnisse von Selzen in den 6 Wahlen der späten Weimarer Republik von 1928 bis 1932 - oder - der Weg in den Abgrund in 20 örtlichen Grafiken.
Nicht nur Friede-Freude-Eierkuchen ... die Befassung mit der Heimatgeschichte kann auch unangenehm und schmerzlich sein. Doch das diesjährige 75. Wiederkehren der bedingungslosen Kapitulation des Dritten Reiches und des Endes des 2. Weltkriegs bieten Grund genug, sich auch mit der Zeit des Nationalsozialismus intensiver zu beschäftigen.
Denn ...
"Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart." (Richard von Weizsäcker, 08.05.1985)
Der Nationalsozialismus gilt als eine der am besten untersuchten Phasen der deutschen Geschichte. Deshalb will ich hier auch nur extrem vereinfacht - aber verknüpft mit den Wahlergebnissen von Selzen - die Entwicklung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) von 1928 bis 1932 darstellen.
Was sagen uns die Wahlergebnissen von Selzen und seinen Nachbarn am Ende der Weimarer Repulik und dem Vorabend der nationalsozialistischen Diktatur heute?
Natürlich geben sie alleine keine Antwort auf die vielen Fragen, nach dem Warum und Wie des Aufstiegs der Nationalsozialisten. Es fällt schwer nachzuvollziehen, warum die Menschen die Ideologie der Nationalsozialisten derart unterschätzten, sich verführen ließen, einem verbrecherischen Regime folgten und das Kommende nicht vorhersahen.
Und weil wir uns heute nur schwerlich in Lage der damaligen Generationen hineinversetzen können, liegt es mir nachfolgend auch fern, Familien, Generationen oder Dörfer über ihr Wahlverhalten bloß zustellen oder zu verurteilen.
Selzen - Nationalsozialistische Keimzelle oder Dorf des Widerstands?
Die Wahlergebnisse aus Selzen zeigen, dass unser Dorf eher keine Besonderheit war. Es war keine "Burg" oder Keimzelle der NS-Bewegung wie Stadecken, Essenheim, Framersheim oder Gau-Odernheim, aber es war auch keine der Gemeinden, in denen die Nationalsozialisten bis zum Schluss nicht richtig Fuß fassen konnten, wie Gabsheim oder Sörgenloch.
Fruchtbarer Boden - Die verhängnisvolle Ausgangslage vor 1928
Entscheidend für den Aufstieg der NSDAP in der linksrheinischen Region war die schwierige wirtschaftliche Lage der Landwirtschaft, die durch die französische Besetzung des Rheinlandes (bis 1930) vom Rest des Reichsgebietes abgeschnitten war und zudem große Reparationsverpflichtungen erfüllen musste.
Angesichts der Wahlergebnisse von 1928 gingen die nationalsozialistischen Politiker nachfolgend von dem Versuch ab, vor allem die Arbeiterschaft zu vereinnahmen. Mit gezielter Propaganda gelang es der Hitler-Partei zunehmend die Bauern, Handwerker und Einzelhändler für sich zu gewinnen. Zugleich erfolgte damit meist auch die Gewinnung der dörflichen Meinungsführer für die NS-Bewegung. ¹
Über 70% der in Selzen Beschäftigten arbeiteten damals in der Landwirtschaft. Die Berufstätigen in Handwerk und Handel waren zudem in hohem Maße von den Bauern abhängig.
Doch es gelang der NSDAP nicht nur Wähler zu gewinnen, die früher ihre Stimmen den bäuerlichen Protestparteien gaben, sie mobilisierte auch die Nichtwähler. In Selzen stieg die Wahlbeteiligung von 1928 bis 1932 um 15%.
Bis heute leben in Selzen vorrangig Menschen mit evangelischer Konfession. Bestätigt hat sich inzwischen die These, wonach ein protestantisch-ländliches Umfeld die Entwicklung der NSDAP stärker begünstigte als katholische Milieus oder in Einflussbereichen der Arbeiterbewegung.
Zusammen mit den umfassenden Aktivitäten von äußerst aktiven und aggressiven Ortsgruppen um Selzen herum, trugen all diese Faktoren zu den zunehmenden Wahlerfolgen der NSDAP in Selzen und den Dörfern Rheinhessens bei.
Vor der Reichstagswahl 1928
„Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen. Wir werden Reichstagsabgeordnete, um die Weimarer Gesinnung mit ihrer eigenen Unterstützung lahmzulegen. [...] Uns ist jedes gesetzliche Mittel recht, den Zustand von heute zu revolutionieren. […] Wir kommen nicht als Freunde, auch nicht als Neutrale. Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in die Schafherde einbricht, so kommen wir.“ (Joseph Goebbels, 30. April 1928)
Einer ist Keiner - Die Reichstagswahl am 20.05.1928
Doch 1928 war davon noch nichts zu spüren. Bei der Wahl 1928 war die NSDAP nur eine von mehreren antisemitischen und völkischen Parteien. In Selzen erhielt die Hitler-Partei bei 477 gültigen Stimmen nur eine einzige Stimme.
Zwischen den Reichstagswahlen 1928 und 1930 ¹
1928 erging die Weisung an alle NSDAP-Parteigliederungen, in ihrer Propaganda den Antisemitismus zu verschleiern, der vor allem auf bürgerliche Kreise abschreckend wirkte.
Im April 1929 hatte sich im Nachbarort Stadecken eine der ersten ländlichen und aktivsten Ortsgruppen im nördlichen Rheinhessen gegründet.
Mit dem New Yorker Börsencrash im Oktober 1929 begann die Weltwirtschaftskrise. Massenarbeitslosigkeit, Armut und Verzweiflung bieten daraufhin den Nährboden für den starken Zulauf der antidemokratischen Parteien.
Die Rheinlandbesetzung durch die Alliierten wurde zum 30. Juni 1930 vorzeitig beendet. Damit konnte die NSDAP ihre Zurückhaltung in Rheinhessen aufgeben.
Die NSDAP setzte zentral auf den Straßenterror der Sturmabteilung (SA) und neue Themen, wie die Sozial- und Außenpolitik.
Auf dem Vormarsch - Die Reichstagswahl am 14.09.1930
Zwei Jahre später waren es in Selzen schon 115 Stimmen für die NSDAP. Sie sammelte Stimmen vor allem bei republikfeindlichen und auch monarchietreuen Parteien ein. Nur die Parteien SPD und Zentrum konnten in Selzen bis zum Verbot die Gegenpole bilden. Die Kommunistische Partei (KPD) spielte in Selzen keine Rolle.
Zwischen den Reichstagswahlen 1930 und 1932
Die (später ungültige) Landtagswahl am 15.09.1931 im Volksstaat Hessen (zu dem Rheinhessen und Selzen gehörte) führte durch den Wahlsieg der NSDAP zu einem Verlust der Mehrheit der Regierungskoalition im Land.
In Selzen erhielt dabei die Hitler-Partei 371 von 578 Stimmen (66,2%)!
Da die Wahl wegen einer falschen Nicht-Zulassung einer Partei für ungültig erklärt wurde, kam es im Folgejahr 1932 zu einer weiteren Landtagswahl im Volksstaat Hessen, mit ähnlichem Ausgang. Die Wahlergebnisse für Selzen liegen mir hier leider nicht vor.
Bei der Reichspräsidentenwahl am 13.03.1932 erreichte der Amtsinhaber Paul von Hindenburg reichsweit nur 49,5% und musste in den 2. Wahlgang, wo er mit 53,1% wiedergewählt wurde.
In Selzen dagegen schaffte Hitler, wie übrigens auch bei 10 anderen Gemeinden der heutigen VG Rhein-Selz, die absolute Mehrheit im ersten Durchgang. Er erhielt in Selzen 292 der 570 Stimmen und damit 51,2%.
Die Wahlergebnisse des 2. Wahlgangs für Selzen sind mir leider nicht bekannt.
Und sonst? ¹
Als verfassungsfeindliche Partei kam jede vorzeitige Auflösung von Reichs- oder Landesparlament den Nationalsozialisten entgegen und brachte ihnen Stimmengewinne. Und bis zum Ende der der Weimarer Republik sollte das stets der Fall sein.
Die NSDAP überzog Rheinhessen mit tausenden Wahlkampfveranstaltungen, Aufmärschen, Kundgebungen und Versammlungen. Dazu wurden eigens Redner ausgebildet.
Die NSDAP weitete ihren parteipolitischen Apparat organisatorisch stark aus und bot für jede soziale Gruppe speziell auf sie zugeschnittene Organisationen und Propaganda an. Sie versprach so, jeder gesellschaftlichen Gruppe, genau ihre Wünsche zu erfüllen. Die eigene Zielen dagegen wurden verschleiert.
Alle extremen Stimmen eingesammelt - Die Reichstagswahl am 31.07.1932
Die Wahl endete mit starken Zuwächsen für die NSDAP. Diese wurde mit Abstand stärkste Partei im Reichstag, jedoch ohne die absolute Mehrheit zu erreichen.
In vielen Orten der heutigen Verbandsgemeinden Rhein-Selz, Bodenheim und Nieder-Olm sah das zumeist ganz anders aus.
In Selzen erhielt die NSDAP 66,9%, also 400 von 598 gültigen Stimmen.
"Deutschland erwacht. Alles wählt Hitler"? Nein, soweit kam es in Selzen nicht.
Aber der Spruch des nächsten Straßenbanners "Ein Volk, ein Führer" wurde leider schon bald Wirklichkeit.
Der Anfang vom Ende - Die Reichstagswahl am 06.11.1932
Die Wahl endete mit erheblichen Stimmenverlusten der NSDAP. Für kurze Zeit sah es so aus, als sei der unaufhaltsam scheinende Aufstieg der Partei gestoppt worden zu sein.
Auch in Selzen erhält die Partei Hitlers 56 Stimmen weniger als 3 Monate zuvor.
Aber eine stabile parlamentarische Regierung war bei diesen Wahlergebnissen nicht möglich. Und so ernannte Hindenburg am 30. Januar 1933 Hitler zum Kanzler, der Anfang vom Ende.
Zusammenfassung
In den Jahren bis zur Machtübernahme hatten weder Hindenburg noch die vorangegangenen Regierungen etwas gegen die offensichtlich verfassungsfeindliche Partei unternommen.
Hitler dagegen hatte nach seinem gescheiterten Putsch 1923 verstanden, dass er nur auf legitimen, ihm durch die Demokratie zur Verfügung gestellten Wegen an die Macht kommen könnte. Er verhehlte jedoch nie, dass die demokratischen Freiheiten lediglich ein Instrument seien, mit dessen Hilfe sie die Macht erkämpfen wollen.
Wie Joseph Goebbels einst versprach: "Wir sind legal bis zur letzten Galgensprosse, aber gehenkt wird doch."
Wahlen ohne Wahl - Die folgenden Reichstags"wahlen"
Die folgende Reichstagswahl nur 4 Monate später am 05.03.1933 war die letzte Reichstagswahl, an der mehr als eine Partei teilnahm. Diese Wahlen fanden bereits im Schatten der beginnenden Diktatur statt. Im Wahlkampf verübten Mitglieder der NSDAP in starkem Maße Übergriffe auf politische Gegner und Opposition. Dabei kam der Regierung Hitler auch der Reichstagsbrand im Februar 1933 zugute. Die tags darauf erlassene Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat setzten die Grundrechte außer Kraft.
Kurz nach dem Betätigungsverbot für die SPD als „staats- und volksfeindliche Partei“ (1933) lösten sich sämtliche Parteien mit Ausnahme der NSDAP auf. Am 14. Juli 1933 folgte das Gesetz gegen die Neubildung von Parteien. Bei den drei weiteren in der Zeit des Nationalsozialismus durchgeführten Schein-Wahlen am 12.11.1933, 29.03.1936 und 10.04.1938 stand nur noch die NSDAP-Einheitsliste zur "Wahl".
Selzer Ergebnisse zu diesen Pseudo-Wahlen liegen mir nicht vor, sind aber auch nicht mehr aussagekräftig.
Fortsetzung bald im Blog-Beitrag: "Notizen aus dunkler Zeit - Selzen zwischen 1933 und 1945".
Quellen:
Alle Grafiken zu den Wahlergebnissen von Stefan Bremler
Wahlergebnisse aus:
Falter, Jürgen W., & Hänisch, Dirk (1990). Wählerbewegungen zum Nationalsozialismus Wahl- und Sozialdaten der Gemeinden Hessens in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik . GESIS Datenarchiv, Köln. ZA8117 Datenfile Version 1.0.0, https://doi.org/10.4232/1.8117
¹ Vgl. Seite „Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 22. Mai 2020, 22:34 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Nationalsozialistische_Deutsche_Arbeiterpartei&oldid=200216282
Siehe auch Seite „Reichstagswahlen in Deutschland“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. . März 2020, URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Reichstagswahlen_in_Deutschland&oldid=197631968
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