Mit der Zeitmaschine zurück in die Jahre von 1953 bis 1986. Also in jene Zeit, als Selzen und seine Bürger auch ohne "Amazon", "Lieferando", "Check 24" und "Jochen Schweitzer" überlebensfähig waren.
Das Jahr 2020: Wo und wie einkaufen im Corona-geplagten Land? Noch vor einigen Jahrzehnten hätte sich die Frage gar nicht gestellt. Es bedurfte schon ganz besonderen Anschaffungen, um dafür - als heiliges Ereignis zelebriert - "geschniegelt und gestriegelt" nach dem fernen Mainz zu fahren.
Wie schon das "Landes-Adressbuch für das Großherzogtum Hessen" von 1906 zeigte (siehe mein Beitrag: "Selzen 1906", https://www.derselzer.de/post/selzen-1906) war Selzen um die Jahrhundertwende vollkommen autark und konnte mit seinen Handwerkern und Händlern fast alle Bedürfnisse seiner Einwohner selbst befriedigen.
Dies änderte auch der Zweite Weltkrieg nicht, als viele Selzer Männer und Handwerker nicht aus dem Krieg zurückkamen. Im Gegenteil, in den Nachkriegsjahren waren die "Problemlöser" wichtiger denn je und dies führte neben der Weiterführung bestehender Werkstätten zur Etablierung neuer Läden und Handwerksbetrieben. So gab es zum Beispiel in den 60/70-iger Jahren vier Schreinereien in Selzen (Engel, Krebs, Neunecker, Wolff).
Rewe und Edeka in Selzen
Bis etwa 1990 war das Angebot in Selzen durchaus noch vielfältig und üppig, auch wenn durch Industrialisierung und zunehmender Mobilität einige Handwerksbetriebe und Läden verschwunden waren. Dann begann schleichend der Niedergang der örtlichen Nahversorgung. Von den vielen Lebensmittelläden, die es in den 50/60-iger Jahren gab
Karl Seemann, Kapellenstr. ("EDEKA")
Wilhelm Kissinger, Gaustr. (später H. u. H. Öhlenschläger, "CENTRA"),
Richard Göttelmann, Kirchstr. (später K. Hammen)
Jean Solms, Kapellenstr. (später K. Schüler, "EDUSCHO")
Albert Rüger, Gaustr. ("REWE überall")
Robert und Alice Wolff, Bergstr. ("A & O")
Johann Kissinger, Gaustr. (später Luzie Kissinger und Marianne Zimmermann, "KAUFHAUS AUF DEM LANDE")
Ludwig Kissinger, Oppenheimer Str. (Metzgerei)
Rudolf Heinrich Kissinger, Gaustr. (später H. Dämgen, Metzgerei)
... existiert heute leider keinen mehr. Mit unserem Kaufverhalten hatten wir daran leider maßgeblichen Anteil.
Das Angebot
Also, schauen wir mal, was es von 1953 bis 1986 in Selzen so alles gab (allerdings ohne Anspruch auf Vollständigkeit).
Die abgebildeten Anzeigen sind Originale aus aufgelegten Festschriften. Zur besseren zeitlichen Einordnung hinsichtlich ihrer Veröffentlichung habe ich sie eingefärbt.
Bei den sympathischen Werbe-Reimen (die sich mitunter gar nicht wirklich reimen) und -Sprüchen wird deutlich, dass hier wohl eher keine Marketing-Agentur Hand angelegt haben.
Für Heim und Hof
"Willst du gut und preiswert kaufen, brauchst du nicht das Haar zu raufen. Ist das Geld auch noch so knapp, bei Möbel-Krebs gibt es für jeden was. Die Auswahl ist wie in der Stadt und unverbindlich erhält du fachmännisch Rat. Drum laß es dir geraten sein, kauf dein Möbel usw. bei Möbel-Krebs in Selzen ein."
(Werbeslogan von Möbel-Krebs, Selzen, 1953)
Und was nicht gekauft werden konnte, wurde einfach von den Selzer Handwerker selbst hergestellt. Es gab für alles eine Lösung.
Für das Handwerk
"Beste handwerkliche Qualitätsarbeit ... empfiehlt sich in allen vorkommenden Arbeiten".
"Schuhe erhalten heißt Geld sparen."
(Werbeslogan zweier Handwerker, Selzen, 1953)
Und wer hart arbeitete, mußte auch reichlich essen. Die Wege zu unseren Lebensmittel waren nicht weit. Sowohl Selzer Unterdorf, Oberdorf und Dorfmitte hatten ihre eigenen Lebensmittelgeschäfte.
Für den Hunger
"Von der klugen Hausfrau lass dir raten, beste Wurst und Sonntagsbraten kauft man nur im Metzgerladen."
(Werbeslogan der Metzgerei Rudolf Heinrich Kissinger, Selzen, 1953)
Seit der Jahrhundertwende (siehe mein Beitrag "Zug durch die Gemeinde - Die historische Kneipentour 1906" https://www.derselzer.de/post/zug-durch-die-gemeinde) war die Anzahl der Dorfkneipen gesunken. Aber noch immer war das Angebot reichlich. Und zahlreiche Getränkehändler lieferten mittlerweile "Frei-Haus".
Für den Durst
„Ob’s regnet, donnert oder blitzt, ist’s gut, wenn im SELZER FROSCH du sitzt.“
(Werbeslogan der Gaststätte „Zum Selzer Frosch,“ 1982)
Nicht zu vergessen, das Getränk das wir selber so vorzüglich herstellen konnten. Schon die Römer bauten in Selzen Wein an.
Für die Trauben
"1a gepflegte und reine Flaschenweine eigenem Wachstums in verschiedenen Geschmacksrichtungen aus besten Lagen hiesiger Gemarkung."
(Satz mit typischen Werbeausdrücken aus der Zeit)
Doch der Selzer Boden ernährte nicht nur die Winzer.
Für den Boden
"Hast du vor lauter Arbeit schon Tränengewinsel, so lasse deinen Kopf nicht hängen. Rufe herbei Lohnunternehmer Otmar Binzel, der hilft dir aus Not und Drängen."
(Werbeslogan eines landwirtschaftlichen Lohnunternehmens, Selzen, 1965)
Damals waren die Versicherungsvertreter keine fremden Personen. Es waren Selzer Bürger und man kannte sich. Und so wurden dann auch schon mal Verträge abgeschlossen, nur weil man im selben Verein war.
Für das Geld
"Drum bring dein Geld zur Kasse hin, durch SPAREN hast du dann GEWINN! Brauchst du mal Geld, so komme auch, wir beraten dich gerne und helfen dir auch."
(Werbeslogan der "Spar- und Darlehenskasse" Selzen, 1965)
Für das Wohlbefinden
"Wie aus dem Ei gepellt, durch Roland spare Zeit und Geld."
(Werbeslogan zur "Roland"-Reinigung in Selzen, 1961)