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AutorenbildStefan Bremler

"Der Stein des Anstoßes" in Selzen

Aktualisiert: 11. Feb. 2021

Die Selzer Prellsteine - kleine unscheinbare Zeugen der historischen Landwirtschaft vor der Ablösung von Zugtieren durch Maschinen und Motoren.


In meinem Blog-Beitrag "Hans, kuck in die Luft!" über die Zwillingsfenster

(siehe https://www.derselzer.de/post/hans-guck-in-die-luft) hatte ich die Aufmerksamkeit noch himmelwärts in die Selzer Dachgiebel gelenkt. Heute möchte ich "auf dem Boden bleiben" und den Blick auf eine weitere - ebenso gern übersehene - Eigentümlichkeit richten.


In meiner Kindheitserinnerung waren sie damals überall. Irgendwie an jeder Ecke. Und wenn wir mit den Klapp- oder Bonanzarad unterwegs waren, hielten wir immer an diesen Stellen, weil man dort so cool und ohne den Boden zu berühren ein Bein abstellen konnte. Oder wir haben darauf gesessen und ließen den eher spärlichen Verkehr an uns vorbei rauschen.


Die Kurve kratzen


Die Rede ist vom Prellstein, auch bekannt als Radabweiser, Abweichstein, Abweiser, Radstößer oder Kratzstein. ¹


Repräsentativer Prellstein am Alten Schulhof, Ecke Kaiserstraße / Oppenheimer Straße. Foto: Stefan Bremler, 2020

Letzterer Name gibt uns auch einen Hinweis, woher eigentlich die Redewendung "die Kurve kratzen" kommt. Heute steht die Redewendung eher für "sich davonmachen und verschwinden" oder "sich aus dem Staub machen". Und in der Eile, kann schon mal das Motorradpedal den Straßenbelag berühren oder die Kurve geschnitten werden ... so der vermutete Zusammenhang.


Aber die Redewendung ist viel älter und hat ihren Ursprung tatsächlich schon im Mittelalter. Damals waren die Gassen meist - vor allem in den Städten - schmal und die von Pferd, Esel, Ochs oder Kuh gezogenen sperrigen Fuhrwerke hatten eher das Gegenteil der perfekten Spurführung heutiger, mechanisch oder hydraulisch gelenkter, Fahrzeuge. Die Lenkung erfolgte über die Deichsel und einen Drehschemel. War man mit der Vorderachse des Wagens an einer Gebäudeecke vorbei, konnte man leicht mit dem hinteren Teil des Wagens noch an der Ecke hängen bleiben. Wenn der Ochs die Kurve eng nehmen wollte, dann nahm er sie eng (eigentlich wie heute). Häufige Zusammenstöße zwischen Wagen und Mauern waren eigentlich nicht zu verhindern.



Typische Selzer Fuhrwerke aus vergangener Zeit ²

Bilder aus dem Bildband "Selzen - Bilder aus vergangenen Tagen, 1900-1945, Geiger Verlag, 1989


Die Innovation


Die Lösung für dieses Problem wurde schon sehr früh erfunden. So finden steinerne Schutzelemente mindestens seit der römischen Zeit Anwendung. ¹


Ein solcher Radabweiser ist ein konisches gerundetes Bauteil aus Stein oder eine andere massive Konstruktion zum Schutz von Mauern, Gebäudeecken oder Toreinfahrten vor Beschädigung durch die Räder. Häufig waren das große kegelförmige Elemente, welche an den Hausecken eingebaut wurden und unterhalb der Radnabe enden. Bevorzugt wurden dazu harte Gesteine verwendet, da Steine mit geringerer Festigkeit (zum Beispiel Sandsteine) sonst zu schnell von den eisernen Radreifen der Pferdewagen zerschlissen wurden. ¹


Prellstein am Alten Schulhof, Ecke Oppenheimer Straße / Kaiserstraße: Foto: Stefan Bremler, 2020

Doch die Abweissteine sollten nicht nur die Ecken von Gebäuden und Mauern vor Beschädigung durch zu nah vorbeifahrenden Fuhrwerken schützen. Auch das Fahrzeug selbst sollte geschützt werden. Vor allem die Radnabe, die aus dem Rad etwas herausstand. Bei einer Eckkollision wäre unter Umständen das ganze Rad und die Achse beschädigt worden, damals eine kostspielige und aufwendige Reparatur, verbunden womöglich mit einem Ausfall des Einkommens. ¹


Die Funktion eines Abweissteines war dadurch gegeben, dass der Stein von der Gebäudeecke weg schräg nach unten in den Erdboden verlief und dort fest verankert war. Kam das Rad eines Fuhrwerkes dem Stein bzw. Gebäude zu nahe, wurde es „abgewiesen“, d.h., das Fahrzeug rutschte ein kleines Stück weg vom Haus und nichts wurde beschädigt.


Prellsteine in Selzen. Fotos: Stefan Bremler, 2020


Steinreiches Selzen


Als ich mir vornahm, alle Prellsteine in Selzen zu fotografieren, war mir natürlich bewußt, dass viele Steine aus meiner Kindheit verschwunden sind. So wie auch das folgende Exemplar in der unmittelbaren Nachbarschaft meines Geburtshauses.


Gruppenbild mit Prellstein von 1926 (?). Das Haus in der Gaustraße 27 wurde 1976 abgerissen. ²

Es hat mich dann aber doch überrascht, wie viele Radabweiser sich in die Neuzeit hinübergerettet haben. Leider sind einige hervorstehenden Steine vor allem bei den Toreinfahrten alter Höfe wegen der Verengung der Spurbreite beseitigt worden. Wir sollten uns aber bemühen, dass diese Zeugen der Vergangenheit nie gänzlich aus dem Selzer Straßenbild verschwinden.


Prellsteine in Selzen. Fotos: Stefan Bremler, 2020


Ein wirklich schönes Beispiel hierfür lieferte der Selzer Gemeinderat. Die Gemeinde erwarb vor einigen Jahren die Kaiserstraße 15, um das Grundstück für den Bau des Gemeindezentrums zu nutzen. Nach dem Abriss des alten Gebäudes waren die denkmalgeschützten Torpfeiler des Nachbargebäudes in der Kaiserstraße 17 überflüssig. Der Gemeinderat beschloss, die Pfeiler zu dem Mauerdurchbruch in der Oppenheimer Straße zu versetzen. Dabei wurden lobenswerterweise auch die zwei Prellsteine mitgenommen. Und so stehen sie an einer Stelle, die niemals ein Fuhrwerk passiert hat. Aber ... und das ist das Entscheidende ... sie sind noch da!



Wer will, kann beim nächsten Spaziergang durch den alten Ortskern versuchen, alle Steine aufzuspüren. Vielleicht findet sich sogar einer, den ich übersehen habe.


Übrigens: Auch wenn die Überschrift "Der Stein des Anstoßes" so gut zum Thema passt ... es ist eine Redewendung aus dem Alten Testament und hat tatsächlich nichts mit den Prellsteinen zu tun.


Quellen:

¹ Vgl. Seite „Radabweiser“, in Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 5. Juli 2019. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Radabweiser&oldid=190150231

² Vgl. Gemeinde Selzen, "Selzen - Bilder aus vergangenen Tagen, 1900-1945, Seite 15, 19-21 und 32-33, Geiger Verlag, 1989

Alle anderen Fotos: Stefan Bremler, 2020

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