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Gisela (Gilla) Kissinger

Nicht "Alles in Butter"

Aktualisiert: 21. Jan. 2022

Weyerstraße 2: "Eine Kuh macht Muh, viele Kühe machen Mühe!" Eine Familie und das Ende der Milch in Selzen.



Ein Beitrag von Gisela (Gilla) Kissinger im Rahmen der Aktion „Selzer Häuser erzählen“.


Mein Elternhaus stand einst auf dem Grundstück der Weyerstraße 2. Es war bis zu seinem tragischen und traurigen Ende 1983 eines der ältesten Häuser in Selzen.


Aquarell von Hof und Haus aus Familienbesitz; 1982; B. Wolf.
Grundstück (gelb), Scheune (braun) und Haus (rot) in einem Plan von 1859. ⁵

Die Bingenheimer


Meine Vorfahren, die „Bingenheimer“, sind seit sehr langer Zeit in Selzen ansässig, der Familienname kann für Selzen mit einem Jakob Bingemer bis mindesten ins 16. Jahrhundert nachgewiesen werden.


Viele Selzer stammen aus der Linie Bingenheimer ab, aber leider gibt es heute den Nachnamen Bingenheimer in Selzen nicht mehr. Das ist recht verwunderlich, denn es war einstmals eine kinderreiche und weitverzweigte Familie. In der Geschichte von Selzen spielte sie eine nicht unbedeutende Rolle und die Bingenheimer tauchen vielfach in Vereins- und Ortschroniken auf.


Silvesterfeier 1934/35 in unserem Haus. Die Schwester meines Vaters Elise Bingenheimer ganz links. ⁶

So auch mein Vater Rudolf („Ruddel“) Bingenheimer (1917 - 1973), mitunter auch nur einfach „Bing“ gerufen. Wir hatten in der Weyerstraße einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb („Bauerrei“) mit zwei ganz besonderen Mitarbeitern: Die Pferde Hans und Lotte. Sie brachten für Selzen den Wagen mit den großen Milch-kannen zur Molkerei. Denn es gehörte zur täglichen Arbeit meines Vaters, diese mit Namen und Nummern markierten Kannen voller Milch, welche die Bauern auf die Milchbank vor unserem Haus stellten, auf seinen Wagen zu laden und nach Undenheim zu liefern.


Andere Molkerei (Glakowski, Hahnheim), anderer Fahrer (Rudolf Engelhardt) ... aber so sah das aus. ⁶

 

Nebenbei bemerkt: Die Milch macht‘s


Früher hatten fast alle Selzer Familien Milchkühe und Ziegen. Selbstverständlich wurde damals noch von Hand gemolken, die reichen Bauern hatten dafür die „Schweizer“, wie die Melker früher auch genannt wurden.


Bevor es nahe Molkereien gab, blieb die Milch in den Bauernfamilien und ein Teil davon wurde zu Butter und Käse verarbeitet. Manche Familien verkauften ihre Butter in Mainz und fuhren mit dem Zug zu ihren Stammkunden.


Ab den 20er-Jahren gab es dann eine Molkerei in Undenheim und in Hahnheim (Familie Glakowski). Jeder Milchbauer erhielt nun eine Nummer, die sich auf seinen Milchkannen wiederfand. Damit konnte die gemessene Milchmenge dem richtigen Bauern zugeordnet werden. Butter, Käse und Quark konnte man jetzt gegen Verrechnung bei der Molkerei bestellen und bei Anna Binzel in der Kaiserstraße und später dem Ladengeschäft Oehlenschläger abholen.


Die Pferdefuhrwerke, die die Milch einsammelten und nach Hahnheim und Undenheim brachten, wurden zwischen 1920 und 1950 gefahren von Jakob Seemann, Fritz Kissinger, Rudolf Bingenheimer und Rudolph Engelhardt.


Da es verboten war, die Milch auf den Boden zu stellen, wurden die Kannen auf öffentliche Milchbänke und -rampen deponiert und von dort täglich eingesammelt. Es bedurfte schon etwas Kraft, um die 20 Liter fassenden Kannen auf die hölzerne Bank zu wuchten. Milchbänke befanden sich in der Weyerstraße/Käsgasse, Kirch-, Kaiser-, Kapellen- und Domhofstraße, so wie drei in der Gaustraße. ¹


Die Milchbänke waren ein wichtiger sozialer Treffpunkt im Dorf. Da hieß es dann oft bei Anlieferung oder Abholung der Kannen: "Hoste schun geheerd?" und schon waren die Dorf-News für das gemeinsame Familienfrühstück eingesammelt und im Umlauf. Aber die Milchbänke waren noch mehr. Die Kinder haben auf ihr gespielt und so manches verliebte junge Paar gab sich den ersten Kuss auf der Milchbank. Wenn in der Gaststätte kräftig gefeiert wurde, war man froh für eine Milchbank auf dem – gefühlt doppelt so weiten - Weg nach Hause.

 

Auch wir haben auf diesen Milchbänken so manche Sitzparty veranstaltet ... bis das Schimpfen der Älteren uns vertrieb.



Lotte und Hans sind dann mal weg


Über Lotte und Hans erzählte man sich in der Familie die Geschichte, wonach die Pferde sich auch mal ohne ihren Fahrer auf den Heimweg machten. Der täglichen Routine folgend sollen sie nicht auf ihren Fuhrmann gewartet sondern ihren Weg alleine nach Selzen in die Weyerstraße gefunden haben. Der "Kutscher" musste sich dagegen zu Fuß auf den Rückweg machen.


Das Haus aus der Käsgasse gesehen.

Für Selzer Bürger, die keine Kühe hatten, wurden kleine Milchmengen „lose“ bei uns Zuhause verkauft. Dazu ließ sich der obere Teil der zweigeteilten Haustür öffnen, so dass eine Durchreiche und Ausgabe entstand. Dort wurden mitgebrachte Milchkannen und andere Gefäße für die Mitnahme mit dem frischen vitaminreichen Getränk gefüllt.


Gut was los, an der geteilten Haustür.

Wie damals üblich, waren auch wir Selbstversorger. Wir hatten Schweine („Wudze"), Hühner und Hasen. An Weihnachten wurden die lieb gewonnenen vier Hasen für den Festtagsbraten geopfert. Was für ein Schock für uns Kinder, sie eines Tages abgezogen und nackt im Schuppen („Schoppe“) hängen zu sehen.



Fuzzy und der Peitschenheini


Am großen Tor unserer Scheune waren Kinoplakate angebracht, auf denen für den neusten Film in der Gastwirtschaft „Zum Schützenhof“ geworben wurde (Der Selzer: Dazu bald mehr). Durch den regen Milchhandel mit viel Laufkundschaft in unserem Hof wurden die Filme bekannt und somit auch gut besucht. Unsere Familie hatte freien Eintritt zu allen Filmen dank der erfolgreichen Werbung.


Ich erinnere mich noch an meinen allerersten Film. Es war ein Cowboy-Film mit „Fuzzy“.


Der Schauspieler Alfred St. John spielte in seiner Rolle als Cowboy „Fuzzy“ zwischen 1937 und 1950 in über zwanzig B-Western mit (z. B. „Fuzzy und der Weisheitszahn“ oder „Fuzzy und der Peitschenheini“). Die späteren Generationen kennen die Filme bestimmt noch von der Serie „Western von Gestern“. ³



Das Ende des Betriebs


Nach Beendigung des Milchhandels und unseres landwirtschaftlichen Betriebs nahm mein Vater eine Anstellung bei den Schott Glaswerken in Mainz und später bei Opel in Rüsselsheim an. Dort fanden viele ehemaligen Bauern aus Selzen Arbeit.


 

Nebenbei bemerkt: Die letzte Selzer Kuh


Alles veränderte sich schnell. In den 50er-Jahren lösten LKWs den Milchtransport mit dem Pferd ab. Die Undenheimer Molkerei wurde um 1970 geschlossen. Doch davon waren nur noch wenige Selzer Bauern betroffen. Die Agrarpolitik mache die Kleinstbetriebe unrentabel und die meisten hatten die Kühe-Haltung längst aufgegeben.


Emil Schmittle in der Kapellenstraße war der letzte "Milchbauer" von Selzen. 1982 hatte er noch fünf Milchkühe. Die Milch war in erster Linie für den Eigenbedarf der Familie vorgesehen. Der Überschuss ging an die Molkerei nach Frankfurt. Anfang 1984 verkaufte Emil Schmittle seine letzten Kühe. Nachdem die Kinder aus dem Haus waren, war das tägliche Melken und Füttern – neben dem Beruf - für die Eheleute alleine nicht mehr leistbar.


Die Kühe fraßen an ihrem letzten Tag die letzte Dickwurz – und die nicht ganz. Sie spürten wohl, dass das Ende gekommen war. Für sie selbst ... aber auch für die Kühe in Selzen. ²

 

Und so löste sich auch unser landwirtschaftliche Betrieb unweigerlich auf. Für den Hof und die große Scheune mit dem kuriosen Grundriss mussten andere Nutzungsmöglichkeiten gefunden werden.


Unser Kuhstall wurde an Willi Schönfeld aus Köngernheim vermietet, der dort eine Spenglerei einrichtete. Und wieder wurden viele Töpfe und Kannen zu uns gebracht. Nur gingen sie diesmal leer, aber dafür repariert zurück.


In früheren Zeiten fuhr man die Dreschmaschine nach der Ernte von Haus zu Haus, um das Getreide zu dreschen. Einen festen Standort fand jetzt eine Dreschmaschine in der großen Scheune. Dort konnten die Bauern ihr Getreide bearbeiten und wurden von der Familie Bingenheimer mit „Maschinerstücke“ – dicke Brote mit Leberwurst oder Blutwurst - versorgt. Später mietete Albert Götter die Scheune für seine Bedürfnisse.


Weinlese-Abschluss der Familie Schätzel 1924 an der Ecke Gaustr./Weyerstr. Im Hintergrund die "schiefe" Scheune. ⁶

Zwei von uns vier Kinder wurden – wie damals üblich – Zuhause mit Hilfe der Hebamme geboren. Wir spielten im Hof, hatten einen Hund der Tilly hieß und eine Schaukel im Schuppen, die uns Kinder fliegen ließ.


Der Sarg und Blumen im Hof: Am Tag der Beerdigung von Oma Johanna Binzel.

Später haben wir oft in unserem Keller, der im Sommer angenehm kühl und im Winter gut temperiert war, Party gefeiert. Es war die Zeit, in der die Keller-Vorratshaltung von Kartoffeln, Sauerkraut und vielen anderen Lebensmittel deutlich zurück ging.



Bank ohne Milch


Nach einem Unfall meines Vaters konnte er den zweiten Stock nicht mehr erklimmen. Die alte Stiege war schmal und steil. So suchten meine Eltern eine behindertengerechte Wohnung und verkauften ihr Haus. Da waren wir Kinder bereits ausgezogen und hatten eigene Hausstände.


Im Jahr 1965 beschloss die Spar- und Darlehnskasse Selzen ein Grundstück oder Gebäude zu erwerben, worauf ein eigenes Bankgebäude errichtet werden sollte. Die Bank kaufte die Weyerstraße 2, riss die Scheune ab und vermietete das Wohnhaus. Auf dem Platz der ehemaligen Scheune wurde das Bankgebäude gebaut und am 05. Juni 1968 in einer Feierstunde eingeweiht. Inzwischen befindet sich in dem Gebäude die Praxis von Heilpraktiker und Geopathologe Franz Dieter Krost.



Spar- und Darlehenskasse Selzen, später Volksbank Mommenheim-Undenheim; 1982; Foto Beate Höneß. ⁷

Feuer unterm Dach


Auf dem heute dazugehörenden Parkplatz stand einst das Wohnhaus. Unser altes historisch bedeutendes Haus fand leider ein dramatisches Ende.


In der Nacht vom 07. zum 08. August 1983 wurde die Freiwillige Feuerwehr Selzen zu einem Hausbrand gerufen. Nachbarn hatten an dem Sonntag gegen 23.30 Uhr Flammen aus dem Dachstuhl des Hauses Weyerstraße 2 schlagen sehen.


Unterstützt durch die Feuerwehr Undenheim drangen die Brandbekämpfer mit schwerem Atemschutzgerät in das Innere vor. Es wurden in dem von einer siebenköpfigen Familie bewohnten Haus noch Menschen vermutet. Glücklicherweise war das nicht der Fall und niemand kam zu Schaden. Die Familie mit ihren 5 Kindern befand sich zum Zeitpunkt des Unglücks bei Verwandten in Rüsselsheim.


Bericht der Allgemeinen Zeitung über den Brand; August 1983.

Die Wehren brachten den Brand unter Kontrolle und konnten ein Übergreifen auf die Nachbarhäuser verhindern. Aber für das Haus gab es keine Rettung. Als die Familie am nächsten Tag zurückkam, standen sie vor den Trümmern. In einer beispiellosen Hilfsaktion der Selzer wurden innerhalb kürzester Zeit Geld- und Sachspenden gesammelt, eine neue Unterkunft gefunden und diese für die Familie eingerichtet. ⁴


In der Nacht des Brandes eilte ich damals von der Goethestraße zu dem Ort meiner behüteten Kindheit und schönen Jugendzeit und musste mit ansehen, wie die Flammen davon nicht viel übrig ließen. Schon bald wurden die Trümmer beseitigt und eine leeres Grundstück blieb zurück. Aber meine Erinnerungen füllen etwas wehmütig aber dankbar diese Lücke.




Quellen:

¹ Vgl. "Selzer Ortsschell", Herausgeber SPD Ortsverein Selzen, Februar 1982

² Vgl. "Selzer Ortsschell", Herausgeber SPD Ortsverein Selzen, April 1984

³ Vgl. Seite „Al St. John“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 26. Februar 2021. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Al_St._John&oldid=209225242

⁴ Vgl. "Selzer Ortsschell", Herausgeber SPD Ortsverein Selzen, Oktober 1983


Aquarell, Zeitungsartikel und Bilder aus Privatbesitz, außer

⁵ Auszug aus Ortsplan von 1859, Stefan Bremler

⁶ Bilder aus Bildband "Selzen - Bilder aus vergangenen Tagen 1900-1945", Gemeinde Selzen, 1989

⁷ Jubiläumsbuch zur "1200-Jahrfeier der Weinbaugemeinde Selzen", Chronik der Spar- und Darlehenskasse Selzen, Bild: Beate Höneß

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