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  • AutorenbildStefan Bremler

Alles dreht sich, alles bewegt sich


Gaustraße 21: Bewegte Weihnacht in Selzen


Ein Weihnachts-Sonderbeitrag von Stefan Bremler zur Helferkreis-Aktion "Selzer Häuser erzählen".



Nein, ... die Überschrift meint hier nicht die Nachwirkungen eines Weihnachtsmarktbesuches mit Glühweinorgie. Das dürfte in diesem zweiten Corona-Jahr sowieso wieder kaum möglich gewesen sein.


Heute geht es um einen Weihnachtsbrauch, der sich im 19. Jahrhundert vom deutschsprachigen Raum aus über die ganze Welt verbreitete: Der Weihnachtsbaum oder auch Christbaum. Und auch darum ... wieso einer davon in Selzen nicht still stehen konnte.


Da steht er jetzt noch, die Geschenke darunter sind ausgepackt. Erinnern wir uns nochmal kurz an das Aufstellen und sind wir ehrlich, wir haben alle ein wenig getrickst. Denn heutzutage verhält es sich mit einem Weihnachtsbaum in einem kleinen Wohnzimmer wie mit dem Mond am nächtlichen Himmel. Es gibt eine sichtbare Seite und eine Hälfte im Verborgenen, die möglichst keiner sehen soll. Dort, in der der Wand zugeneigten Hälfte finden sich oft die kahlen Stellen und schiefen Zweige des Baums, ein etwas reduzierter Lichterglanz und der weniger schöne Christbaumschmuck.


Eine Vorgehensweise, die um die Jahrhundertwende in vielen Familien gar nicht funktioniert hätte. Auch nicht bis vor wenigen Jahren bei Hannelore "Lore" Kappesser in Selzen.

Denn sie besitzt und benutzte einen Christbaumständer, den sich die Cannstätter Firma J. C. Eckardt im Jahr 1873 patentieren ließ: Den Christbaum-Untersatz mit Musik und Mechanik.


Patent-Schild am Christbaum-Untersatz. Man beachte den energischen Griff des Knechts Ruprecht.

"Herr Eckardt war es, der zuerst auf die Idee kam und solche auch glücklich zur Ausführung brachte, den Christbaum auf mechanischem Wege in Bewegung zu setzen, während gleichzeitig eine feierliche, dem Feste entsprechende Musik ertönt." (Originaler Werbetext)

Dieser vielleicht älteste Selzer Christbaumständer aus der Zeit um 1900 kann laut Werbe-Annonce bis zu 50 Pfund (laut Patent sogar 1 Zentner) schwere Weihnachtsbäume "sammt Angehänge und Lichtern bei gleichzeitiger feierlicher Musik" drehen. Dazu wird die überdimensionierte Spieluhr im massiven Nickel-Ständer mit einem Schlüssel aufgezogen. Sie drehte daraufhin für ca. 45 Minuten langsam den Baum und spielte dazu mit 41 Tönen je nach Modell zwei bis vier Musikstücke. "O, du fröhliche", „Ihr Kinderlein, kommet“ oder auch „Stille Nacht“ gehören zum Repertoire.


Werbung von J. C. Eckhardt aus Stuttgart (um 1900).

"In der That kann man sich aber auch keine schönere Beherrlichung dieses echt deutschen Festes denken, als wenn bei Bemühung der Eckardt'chen Christbaum-Unterfläche der im strahlenden Glanze prangende Baum sich plötzlich langsam zu drehen und gleichzeitig eine feierliche Musik in schöner reicher Klangfülle zu ertönen beginnt." (Originaler Werbetext)

Patent-Beschreibung.

Zusätzlich konnte noch ein Glockenspiel aufgesetzt werden. Aber damit noch nicht genug. Lore Kappesser besitzt das Modell F/4, der mit damals 40 Reichsmark teuersten Variante der Produktlinie. Dieser nur scheinbar schlecht gealterter Christbaumständer hat einen "Felsgruppe-Untersatz nebst Eichenstammaufsatz" und kann auf seiner vorgetäuschten Felsen-Landschaft die Krippenfiguren samt Jesuskind aufnehmen.


Die Felsen-Landschaft des Weihnachtsbaumständers F/4.


Und wie viele Familiengenerationen zuvor, könnte auch heute noch die um den Tannenbaum versammelte Familie von Lore Kappesser bei festlichem Klang alle Seiten ihres Weihnachtsbaumes bestaunen.


Aber natürlich nur, wenn ein gleichmäßig gewichtsverteilter Baum absolut sorgfältig zentriert aufgestellt ("eingemacht") oder nicht gedankenverloren eine stromgespeiste Lichterkette mit Anschlusskabel verwendet wurde.

Ansonsten wird schnell die Textzeile „O Tannenbaum, o Tannenbaum, du kannst mir sehr gefallen" zur alptraumhaften Realität.


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