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  • AutorenbildStefan Bremler

Pissnelke, Bonkert & Co.


Heute möchte ich nicht an vergangene Tage und die Geschichte(n) von Häusern, Personen oder Gegenständen erinnern. Dieses Mal beschäftigt sich der Beitrag mit einem besonderen Aspekt unserer regionalen Geschichte: Der Sprache. Denn auch unsere Wörter können Interessantes erzählen.


Als Beispiel dienen sieben Begriffe, die im eigenen Haushalt von einer Zugezogenen mit verständnislosem Blick kommentiert wurden. Und plötzlich fragt man sich auch selbst: Wo kommen eigentlich die komisch klingenden Wörter her und was bedeuten sie wirklich?


Gewiss gibt es noch mehr und vielleicht auch spannendere Wörter. Alle zu beleuchten ist aber natürlich nicht möglich. Die nachfolgende Auswahl soll nur zeigen, dass unsere regionale und mundartliche Sprache leider ebenso verschwinden kann, wie unsere alten Gemäuer und Erinnerungen.


Heute ist "Klugscheißer-Tag" und wir lernen etwas über:

Milchpisch und Pissnelke, Ladwersch, Kinnerreitschul, Schorle und Schoppe, Grumbeer, Knerzje und Bonkert.

 

„Milchpisch“


Den ersten Beitrag widme ich meiner Freundin Heike im Besonderen. Als eine aus dem Ruhrpott stammende „Neu-Bürgerin“ schafft sie es auch nach nunmehr 20 Jahren nicht, dialektkonform "Milchpisch" auszusprechen.


Zeichnung aus Wikipedia, Gemeinfrei.

Ist aber auch ein komisches Wort. Doch woher stammt es?


Der erste Bestandteil des in Selzen für Löwenzahn benutzten Wortes „Milchpisch“ weist natürlich auf den weißen Milchsaft hin, der sich in den Blättern und Stängeln der Pflanze befindet.


Das „-pisch“ ist eine alte dialektische Abwandlung der Mehrzahl von Busch und umschreibt die buschartig wachsenden Löwenzahnblätter.

Also wurde aus "Milchbüsche" mit der Zeit und mit Dialekt "Milchpisch".

Partie (nicht zu verwechseln mit Party) an der Selz ... bestimmt mit Milchpisch (Ausschnitt aus alter Postkarte).

Nebenbei bemerkt:

Die Blume hat auch unseren Selzer Schimpfwort-Sprachschatz kräftig erweitert.


Die unzähligen mundartlichen und umgangssprachlichen Bezeichnungen des Löwenzahns spiegeln seine Verbreitung und Bedeutung wieder. Pusteblume, Kuhblume, Butterblume und Kettebusch ... alles die gleiche Pflanze.


Die meisten und deutlich weniger schmeichelhaften Begriffe beziehen sich aber auf die in der Naturheilkunde genutzte, harntreibende und verdauungsfördernde Wirkung.

Und so nennen wir das Gewächs - und manchmal eben auch unsympatische Zeitgenossen - Bettseicher und Pissnelke.
 

"Ladwersch"


Ladwersch ... auch so ein seltsames und immer seltener benutztes Wort. Das Wort „Ladwersch“ ist dem lateinischen Wort für Heilsaft entlehnt, welches seinerseits auf das griechische Wort für flüssige Arznei zurückgeht.

"Latwerge" bezeichnete also im Deutschen ursprünglich eine breiige Arzneiform, die aus pulverisierten Heilsubstanzen und Obstmus, Sirup oder Honig gemischt war.

Der süße Bestandteil sollte den Organismus stärken und die manchmal unangenehmen und oft bitter schmeckenden Wirkstoffe abmildern.


Später wurde das Wort nur noch auf die süßen Bestandteile der Arznei bezogen und die Bedeutung schließlich auf alle musartigen Fruchtzubereitungen, vor allem aus Pflaume/ Zwetschen ausgeweitet.


Soviel für all diejenigen, die eher mißtrauisch das seltsame und fremdklingende Wort auf Omas Einmachgläser im Keller beäugen. Dem- oder derjenigen sei gesagt: Es ist alles Medizin.


Der Weg zu Oma's Ladwerge-Sammlung (Bild: Stefan Bremler)
 

„Kinnerreitschul“


Warum sagen wir eigentlich "Reitschul" zum Karussell?

Klingt seltsam, ist aber geschichtlich gesehen vollkommen logisch.


Das heutige Karussell ist aus Reiterspielen des 17./18. Jahrhunderts hervorgegangen, die wiederum die ritterlichen Wettkämpfe des Mittelalters als Vorbild hatten. Bei diesen mittelalterlichen Reiterübungen ging es darum, in verschiedenen Spielen Geschicklichkeit auf dem Pferd zu beweisen. Zum Beispiel im Galopp mit einer Lanze einen Ring aufzunehmen. Diese Reiterspiele bezeichnete man "Caroussel".


Um 1700 wurde dann eine mechanische Variante des Karussellspiels entwickelt. Am Ende eines sich drehenden Kreuzes wurden Holzpferde angebracht. Drumherum wurden Ziele aufgestellt, welche die Karussellreiter in kreisender Fahrt treffen mussten. Später kam der Geschicklichkeitsaspekt aus der Mode und übrig blieb die Kreisfahrt als alleiniges Vergnügen.


Wobei wir damals als Kinder während der wilden Fahrt mit erbsenverschießenden Pistolen eine geradezu meisterhafte Befähigung erlangten.

Hätten unsere stetig tadelnden Eltern recht behalten und wir uns gegenseitig die Augen ausgeschossen, gäbe es heute komplette einäugige und blinde Altersjahrgänge in Selzen.

Aber wir hatten's ja drauf.


J. M. Voltz: "Fibel und Rechenbuch für kleine Kinder", Nürnberg 1828. (Wikipedia, Gemeinfrei)

Zusammengefasst:

Aus dem Kreuz wurde eine runde Plattform, aus Männern wurden „Kinner“, aus Pferden wurden Hubschrauber oder Feuerwehrauto und aus zahlenden Zuschauern wurden ebenso zahlende Omas und Opas. Unsere Kinnerreitschul eben.

Bild des wahrscheinlich ersten Selzer Kerbe-Umzug der Nachkriegszeit ... mit eigener mitgebrachter "Reitschul".
 

"Schorle" und "Schoppe"


Ein „Gespritzter“ ist ein Mischgetränk aus Wasser mit einem Spritzer Wein. In Selzen oft, vieleicht sogar meist, auch umgekehrt.

Das Wort erklärt sich also fast von selbst. Etwas anders sieht die Sache bei den Begriffen "Schorle" oder "Schoppe" aus.


Der Begriff Schorle wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus "Schorlemorle" (bekannt seit dem 18. Jahrhundert) gekürzt. Die Herkunft des Wortes ist tatsächlich nicht zweifelsfrei geklärt.

Manche Experten stellen eine Verbindung zu einem anderen Begriff her. "Schurimuri" bezeichnet einen aufgeregten, hektischen, aufbrausenden Menschen.

Beide Begriffe eint ... einfach und salopp gesagt ... das es "sprudelt".


Alte Ansichtskarte aus Selzen.

Beim "Schoppe" ist es etwas einfacher. Der Begriff ist eng mit den Wörtern Schöpfen und Schöpfkelle verwandt. Ein Schoppen bezeichnet ein Flüssigkeitsmaß, das etwa einen halben Liter umfasst. In der Schankwirtschaft ging im Laufe der Zeit die Bedeutung vom Maß- oder Trinkgefäß auf das in der Regel alkoholische Getränk selbst über.


Aus dem halben Liter wurde in unserer Gegend 0,4 l. Damit ist natürlich auch klar:

Wer die Wahrheit im Wein finden will, darf die Suche nicht schon beim ersten Glas aufgeben! Vor allem, wenn der Wein auch noch mit Wasser verdünnt ist.

Haben sehr wahrscheinlich die Wahrheit im Wein gefunden: Selzer im Hof der Gaststätte "Zum Schützenhof".
 

„Grumbeere“


Zunächst einmal soll das Wort Kartoffel erklärt sein. Erst im 16. Jahrhundert kam die Knollenfrucht aus Südamerika nach Europa. In Italien erhielt die Knolle auf Grund der Ähnlichkeit mit dem Trüffel den gleichen Namen ("tartuficolo"). Im 17. Jahrhundert gelangte die Kartoffel nach Deutschland und der Name wurde mit „Tartuffel“ eingedeutscht. Daraus wurde im Laufe der Zeit der Name Kartoffel.

Aber tatsächlich verwendete man in Rheinhessen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts viel eher den Begriff „Grundbirne“.

"Grundbirne"?


Noch nie gehört? Vielleicht doch, denn wir sprechen es Grumbeer aus. Aus dem Wortteil „Grund“ entstand nach und nach der Begriff „Grum“. Birne wurde dialektisch mit der Zeit zu „bire“ und wegen der Ähnlichkeit zur Bezeichnung von Baumfrucht zur „beere“. Daher also Grumbeer.


Ein kleiner Reim: Die Selzer Äcker ... früher mit mehr ... Rüben und Grumbeer.

Und vielleicht weiß es noch der Ein oder Andere ...

Selzen war einmal ein großer Umschlagplatz für rheinhessische Kartoffeln. Bei der Firma Seemann Landhandel wurden ab 1958 in der Gaustraße 19 kommissionierte Kartoffeln von Hand und später maschinell marktfertig konfektioniert (gereinigt, sortiert und abgepackt) und an die ersten Großmärkte geliefert.


 

"Knerzje"


Wenn Wörter mit "Kn..." anfangen, dann bezeichnen sie oft Gegenstände, die eine verdickte und meist rundliche Form besitzen. Beispiel? Knödel, Knolle, Knorren, Knopf, Knochen, Knoblauch, Knauf, Knie, Knospe, Knoten, Knüppel, Knöchel usw..

Faszinierend, nicht wahr?


So auch unser "Knerzje", eine Verniedlichungsform von "Knörzel" und eng verwandt mit dem Begriff "Knorzen".


Ein Knorzen bezeichnet im Dialekt im übertragenem Sinne ein großes, derbes Stück Brot. In der eigentlichen Bedeutung meint es aber ein dickes, knorriges Stück Holz, sowie einen Auswuchs am Baumstamm. Von da aus wurde ein Zusammenhang zur Form-Abweichung am Brotlaib hergestellt. Am diesem Auswuchs, also am Knorzen, wurde das Brot immer zuerst angeschnitten ...


... und wenn es nicht gut gemacht wurde ... total verknorzt.


Blechkuche und Knerzjer ... kamen früher beim Bäcker Johann Adam Göttelmann aus dem Ofen.
 

"Bonkert"


Der Begriff "Bonkert" (oder "Bankert") ist eine Zusammensetzung aus Bank (meint die Sitzgelegenheit) und dem Namensbestandteil "–hart".

Die Bezeichnung meint „das auf der harten (Schlaf-)Bank (der Magd) und nicht im Ehebett gezeugte Kind“.

Früher sagte man auch Bänkling oder Bankkind, aber Bonkert konnte sich wegen seiner Ähnlichkeit zu Bastard durchsetzen.


Vielen vorlauten und frechen Kindern, denen wir das Wort zuletzt noch hinterhergerufen haben, dürften wir also Unrecht getan haben. Denn, wo gibt es heute noch Mägde und Schlafbänke in Selzen?

Aber, was soll's, wahrscheinlich haben uns die "Bonkert" sowieso nicht verstanden.

Schon schön trotzig: Die Selzer Kindergartenjahrgänge 1900 bis 1902.
 

Quelle:

Vgl. Drenda, Georg: Wortatlas für Rheinhessen, Pfalz und Saarpfalz. Veröffentlichung des Instituts für geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e. V.. St. Ingbert, 2014.

Siehe auch:

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